...es gibt immer eine Lösung!


Die gelebte Andersartigkeit des Einzelnen führt zur erlebten Großartigkeit in der Gemeinschaft.
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Hochsensitivität – was soll der Unsinn?

Muss man für sensible Menschen gleich eine neue Schublade erfinden?
Jeder Mensch ist sensibel, je nach Situation mal mehr, mal weniger- und etwas Sensibilität schadet nicht, aber bitte doch im normalen Rahmen.
Sollen jetzt Weicheitum, Grübelmonsterei und Empathiegehabe einen Namen und damit eine Legitimation bekommen?
Ist es jetzt 'in', bei der kleinsten Kleinigkeit in Tränen auszubrechen mit dem Hinweis 'ich bin doch hochsensibel' und 'die Welt ist so schlecht'?

Muss alles, was bisher gut und richtig war, hinterfragt und angezweifelt werden?
Sollen Querdenker und Querulanten jetzt eine Lobby erhalten? Ist das wirklich nötig?

Wahrscheinlich haben die als Kind zu oft ihren Namen getanzt oder erleben gerade ihre midlife crisis.
Das Leben ist nun mal kein Ponyhof und nur die Harten kommen in den Garten.

Und wenn einer mit dem wirklichen Leben nicht klar kommt, dann ab auf die Couch – dafür gibt es doch Profis.
Also wirklich, Hochsensibilität- was für ein Unsinn, oder?





Lassen Sie mich Ihnen etwas über Präriehunde erzählen:

Präriehund

Präriehunde haben (meistens) nichts mit den uns so vertrauten Hunden zu tun, sondern gehören zur Gattung der Erdhörnchen.
Sie leben in der Prärie Nordamerikas und erinnern in ihrem Aussehen eher an Murmeltiere. Vier der fünf Arten leben in komplexen Kolonien mit bis zu einer Million Bewohnern, die sich über Hunderte Quadratkilometer erstrecken können.

Ähnlich wie bei den Murmeltieren halten immer einzelne Tiere als Wächter Ausschau nach Feinden und alarmieren die übrigen Tiere durch ihr lautes Bellen, dem sie auch ihren Namen zu verdanken haben.

In der Regel übernehmen nur Tiere mit besonders feinem Gefahrenradar die Rolle des Wächters, während sich die anderen der Nahrungsaufnahme widmen.

Wissenschaftlichen Beobachtungen zufolge geht immer wieder eine Art 'La Ola-Welle' durch die Gruppe der Präriehunde, wenn sich ein einzelnes Tier auf die Hinterbeine aufrichtet und andere damit ansteckt.
Biologen der University of Manitoba im kanadischen Winnipeg vermuten, dass dieses koordinierte Männchenmachen dazu dient, die Wachsamkeit der anderen sicherzustellen, um zwischendurch selbst in Ruhe nach Futter suchen zu können.

Sie werden mir zustimmen, dass es nach einer sinnvollen Einrichtung der Natur klingt, einen Teil der Gruppe mit sensibleren Antennen für ein erhöhtes Gefahrenerkennungspotential auszustatten.
Warum aber sollte es das bei Menschen nicht auch geben? Weil es in der heutigen Gesellschaft überflüssig geworden ist? Ist es das?


Und nun: Hochsensitivität – was ist das überhaupt?

Es gibt zahlreiche Webseiten und Bücher, die dieses Phänomen ausführlich und kompetent beschreiben. Am Ende der Seite befinden sich entsprechende Links und Verweise.
Ich möchte (m)eine kurze Definition als Einstieg liefern und fasse Erkenntnisse aus verschiedenen Quellen zusammen, ergänzt um meine persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen:


Definition Hochsensitivität:

Hochsensitivität (HS) bezeichnet im Wesentlichen eine höhere Reizoffenheit und eine intuitivere Wahrnehmung innerer und äußerer Reize, die mit einer gründlicheren Informationsverarbeitung und komplexeren Denkprozessen verbunden ist.

Reizoffenheit

Bei der Aufnahme von Reizen wird zwischen äußeren und inneren Reizen unterschieden.
Damit ein Reiz wahrgenommen wird, muss eine gewisse Reizschwelle erreicht werden. Man geht davon aus, dass das Filtersystem für aufgenommene Reize bei hochsensitiven Menschen (HSM) anders funktioniert, unbewusst mehr Reize aufgenommen werden und die Reizschwelle niedriger ist, so dass mehr Reize über das Nervensystem das Gehirn ansprechen und verarbeitet werden müssen.

Es deutet eine Reihe von Belegen darauf hin, dass Hochsensitivität mit einer evolutionär bedingten Strategie in Zusammenhang steht, die die Informationsverarbeitung vor das Handeln stellt. Das Verhaltenshemmsystem ist stärker ausgeprägt als das Verhaltensaktivierungssystem.
Aufgenommene Reize werden detaillierter analysiert und mögliche Konsequenzen des Handelns gründlicher bedacht.

Hochsensitivität

  • ist gleichbedeutend mit Hochsensibilität
  • wird als physiologisches Merkmal vererbt, die Ausprägungen sind aber vom Sozialisierungsprozess beeinflussbar
  • bezeichnet keine Krankheit
  • wird etwa 15-20% der Menschen zugeschrieben
  • ist bimodal verteilt, d.h. man ist es oder man ist es nicht

Begrifflichkeiten

Im Deutschen findet man verschiedene Begriffe wie hochsensibel, hochsensitiv, hochempfindlich, hypersensibel oder hochreaktiv, die häufig alle dasselbe Phänomen beschreiben.

Diese Uneinigkeit lässt sich auf die Tatsache zurückführen, dass die Thematik wissenschaftlich noch sehr jung ist und sich noch kein Begriff wirklich durchgesetzt hat.

Begriffe

Geprägt wurde der Begriff "Hochsensitivität" durch die US-amerikanische Psychologin Elaine N. Aron, die hochsensitive Menschen als "HSP = highly sensitive person", basierend auf dem Prozess der Sinnesverarbeitung - "SPS = sensory processing sensitivity" - bezeichnet und deren Werke als Grundstein in der HS-Forschung gelten.

Es gibt Ansätze, in denen die Begriffe 'Hochsensibilität' und 'Hochsensitivität' für unterschiedliche Teilbereiche verwendet werden.
Diese Unterscheidung geht aber weder mit Arons Definition konform noch wird sie durch Studien belegt.
Vergleichbar wäre eine Unterteilung von Autofahrern in Autofahrer und PKW-Fahrer.

Da der Begriff 'Hochsensitivität' dem Phänomen aus meiner Sicht wissenschaftlich gerechter wird und 'Hochsensibilität' umgangssprachlich irreführend ist, verwende ich den ersten Begriff.

Nicht jeder sensible Mensch ist hochsensitiv und nicht jeder Hochsensitive ist sensibel.

Forschung

E. Aron veröffentlichte 1997 zusammen mit ihrem Mann Dr. Arthur Aron ihre grundlegende Arbeit zum Konstrukt der Hochsensitivität in einer der angesehensten Fachzeitschriften der wissenschaftlichen Psychologie.

Die Wurzeln gehen allerdings viel weiter zurück.
E. Aron und andere verweisen z.B. auf Untersuchungen von Iwan Pawlow (1849-1936), C.G.Jung (1875-1969) oder J. Kagan (*1929).
Den "frühesten" Verweis auf Werke von Dr. Carl Ludwig Friedrich Freiherr von Reichenbach ("Der sensitive Mensch und sein Verhalten zum Ode", 1854) findet man bei E. Reichardt.

Durch eine Vielzahl von Studien gilt es mittlerweile als gesichert, dass manche Menschen anders oder besonders stark auf Reize reagieren.

Im Juni 2014 wurde eine Studie, an der Aron und Aron beteiligt waren, veröffentlicht, in der mittels der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) Unterschiede in der Reizverarbeitung eindeutig festgestellt wurden.

Ebenfalls in 2014 erforschte die Wissenschaftlerin B. Trappmann den Zusammenhang von Hochsensitivität und intuitiver Wahrnehmung.

Was bedeutet das in der Praxis?

Reizoffenheit

Die Menge der Reize, die auf einen Menschen einströmen, ist für alle gleich. Hochsensitive Menschen können auch nicht besser sehen, hören, riechen, schmecken oder fühlen. Der Unterschied besteht darin, dass Reize eher und intensiver ins Bewusstsein gelangen und beachtet werden wollen.
Es wird weniger als Spam aussortiert, auch Feinheiten werden zur Kenntnis genommen.

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Reaktivität

Reize stimulieren das Nervensystem, das wiederum elektrische Signale aussendet.
Stimulation führt zur Erregung, Erregung zu Emotionen. Werden mehr Reize aufgenommen, führt dieses zu stärkeren (positiven und negativen) Emotionen.
Hochsensitivität ist nicht gleichzusetzen mit emotionaler Empfindsamkeit.

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Weitere Merkmale

Aus der Definition für Hochsensitivität lassen sich weitere Persönlichkeitsmerkmale ableiten.
Die Merkmale finden sich bei allen Menschen und situationsbedingt kann sich jedes Merkmal bei jedem Menschen stärker zeigen. Studien aber belegen, dass diese bei hochsensitiven Menschen in der Regel intensiver und situationsübergreifend auftreten und folgende Bereiche (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) betreffen:

Merkmale ▶ Empathie
▶ Intuition
▶ Denkprozesse
▶ Intelligenz
▶ Naturverbundenheit
▶ Wertesystem
▶ Introversion

Krank oder nicht krank?

"Na, was gibt's Neues?"
"Ich bin hochsensitiv!"
"Oh, das tut mir leid.
Kann man das behandeln?"
"Hä???
Und bei dir?
Warst du schon beim Arzt
wegen deiner Linkshändigkeit?"

Es gilt:

  • Hochsensitivität ist keine Krankheit
  • Hochsensitive Menschen sind nicht anfälliger für psychische Erkrankungen

Leider gibt es andere vorherrschende Meinungen.

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Relevanz

Ist das Thema 'Hochsensitivität' für die breite Öffentlichkeit relevant?
Ich meine, nein, weil das Thema einfach nicht massentauglich ist, aber

  • jeder Hochsensitive sollte es (verstehen und) leben
  • jeder (psychologische) Lehrer sollte es kennen

Insbesondere für alle, die Menschen in irgendeiner Form bewerten, psychologisch beraten oder einstufen, sollte das Thema zum Ausbildungsprogramm gehören.

Warum sollte sich aber die Mehrheit für das Thema an sich interessieren?
Für hochsensitive Menschen selbst kann die Kenntnis hilfreich, muss aber nicht notwendig sein.

Aus persönlicher Sicht kommt man nicht daran vorbei, über seine eigene Hochsensitivität im engsten Umfeld zu sprechen, da es sich um ein elementares Persönlichkeitsmerkmal handelt. Im weiteren Kreis halte ich es nicht für zielführend.

Als ich über meine Hochsensitivität gesprochen habe, waren die unterschiedlichsten Reaktionen die Folge.
Verständnis war (zunächst) nicht dabei – woher auch? Die grundsätzliche Bedeutung wirklich nachempfinden und verstehen können nur hochsensitive Menschen.
Müssen andere auch gar nicht – Toleranz und Akzeptanz auf beiden Seiten reichen durchaus aus.

Wie stellt man Hochsensitivität fest?

Laut Aron gibt es vier Indikatoren, die sie unter dem Akronym "DOES" zusammenfasst und die auf das Vorliegen einer Hochsensitivität hindeuten.

  • D - Depth of processing
  • O - Easily overstimulated
  • E - Emotional reactivity and high empathy
  • S - Sensitivity to subtile stimuli
DOES

Zitat E. Aron:

"Wenn man Hochsensitivität feststellen will, hält man Ausschau nach vier Kategorien: Gründliche Informationsverarbeitung, Übererregbarkeit, emotionale Intensität und sensorische Empfindlichkeit."
(aus "Hochsensible Menschen in der Psychotherapie")

Basierend auf ihren Forschungsergebnissen hat Aron eine HSP-Skala als Selbsttest mit einem Set von 27 Fragen aufgestellt.

Einen modifizierten Test finden Sie ▶ hier.



Fazit

Hochsensitive Menschen nehmen mehr Reize auf, denken, fühlen und agieren aufgrund ihrer angeborenen Disposition anders – mal im positiven, mal im negativen Sinn, mal offensichtlich, mal unbemerkt – einfach nur anders.
Will man Hochsensitivität mit einem Wort beschreiben, dann trifft es Komplexität wohl am besten - komplexer in der Wahrnehmung, im Fühlen und Denken und in den Reaktionen.
Hochsensitivität ist kein Ruhekissen und keine Entschuldigung, sondern sie ist.
Die Erkenntnis darüber kann dabei helfen, Vergangenes ins rechte Licht zu rücken und Verhaltensunterschiede, sich selbst und andere besser zu verstehen. Für mich ist das Verständnis einer Sache elementare Voraussetzung für die Akzeptanz und den Umgang mit diesem Sachverhalt.

Haben hochsensitive Menschen nun eine Sonderbehandlung oder gar Mitleid verdient?
Nein, warum auch?


Es gilt das, was für alle Menschen gilt:

Wenn Selbsterkenntnis auf ein offenes Ohr trifft, Authentizität gespiegelt wird, wenn sich gegenseitiger Respekt mit Wertschätzung paart, dann klappt’s auch mit dem Nachbarn.

Ich möchte meine Hochsensitivität nicht missen – so, wie ich nichts missen möchte, was zum Kern meines Wesens gehört -
aber ich bin nicht meine Hochsensitivität.
Hochsensitivität – für mich weder Gabe noch Fluch, sondern normale Realität.


Ergänzend ein kleiner Ausschnitt aus einem älteren Programm von Dr. Eckart von Hirschhausen:

Jeder ist irgendwie, irgendwo, irgendwann ein Pinguin.


Zum Abschluss ein paar augenzwinkernde Wortkreationen, in denen sich der ein oder andere HSM wiederfindet:

Wortkreationen

Falls Sie das Thema 'Hochsensitivität' vertiefen möchten, finden Sie im Folgenden eine Auswahl mit Quellen, Links und Literatur.

Links

Literatur

  • E. Aron: Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen (ISBN 978-3636062468)
  • E. Aron: Hochsensible Menschen in der Psychotherapie (ISBN 978-3955710224)
  • U. Hensel: Mit viel Feingefühl: Hochsensibilität verstehen und wertschätzen (ISBN 978-3873878952)
  • E. Reichardt: Hochsensibel - Wie Sie Ihre Stärken erkennen und Ihr wirkliches Potenzial entfalten: Mit umfangreichem Selbsttest (ISBN: 978-3424152937)