Hochsensibilität – was soll der Unsinn?
Muss man für sensible Menschen gleich eine neue Schublade erfinden?
Jeder Mensch ist sensibel, je nach Situation mal mehr, mal weniger- und etwas Sensibilität schadet nicht, aber bitte doch im normalen Rahmen.
Sollen jetzt Weicheitum, Grübelmonsterei und Empathiegehabe einen Namen und damit eine Legitimation bekommen?
Ist es jetzt 'in', bei der kleinsten Kleinigkeit in Tränen auszubrechen mit dem Hinweis 'ich bin doch hochsensibel' und 'die Welt ist so schlecht'?
Muss alles, was bisher gut und richtig war, hinterfragt und angezweifelt werden?
Sollen Querdenker und Querulanten jetzt eine Lobby erhalten? Ist das wirklich nötig?
Wahrscheinlich haben die als Kind zu oft ihren Namen getanzt oder erleben gerade ihre midlife crisis.
Das Leben ist nun mal kein Ponyhof und nur die Harten kommen in den Garten.
Und wenn einer mit dem wirklichen Leben nicht klar kommt, dann ab auf die Couch – dafür gibt es doch Profis.
Also wirklich, Hochsensibilität- was für ein Unsinn, oder?
Lassen Sie mich Ihnen etwas über Präriehunde erzählen:
Präriehunde haben (meistens) nichts mit den uns so vertrauten Hunden zu tun, sondern gehören zur Gattung der Erdhörnchen.
Sie leben in der Prärie Nordamerikas und erinnern in ihrem Aussehen eher an Murmeltiere. Vier der fünf Arten leben in komplexen Kolonien mit bis zu einer Million Bewohnern,
die sich über Hunderte Quadratkilometer erstrecken können.
Ähnlich wie bei den Murmeltieren halten immer einzelne Tiere
als Wächter Ausschau nach Feinden und alarmieren die übrigen Tiere durch ihr lautes Bellen, dem sie auch ihren Namen zu verdanken haben.
In der Regel übernehmen nur Tiere mit besonders feinem Gefahrenradar die Rolle des Wächters, während sich die anderen der Nahrungsaufnahme widmen.
Wissenschaftlichen Beobachtungen zufolge geht immer wieder eine Art 'La Ola-Welle' durch die Gruppe der Präriehunde,
wenn sich ein einzelnes Tier auf die Hinterbeine aufrichtet und andere damit ansteckt.
Biologen der University of Manitoba im kanadischen Winnipeg vermuten, dass dieses koordinierte Männchenmachen dazu dient,
die Wachsamkeit der anderen sicherzustellen, um zwischendurch selbst in Ruhe nach Futter suchen zu können.
Sie werden mir zustimmen, dass es nach einer sinnvollen Einrichtung der Natur klingt,
einen Teil der Gruppe mit sensibleren Antennen für ein erhöhtes Gefahrenerkennungspotential auszustatten.
Warum aber sollte es das bei Menschen nicht auch geben? Weil es in der heutigen Gesellschaft überflüssig geworden ist? Ist es das?
Und nun: Hochsensibilität – was ist das überhaupt?
Es gibt zahlreiche Webseiten und Bücher, die dieses Phänomen ausführlich und kompetent beschreiben.
Am Ende der Seite befinden sich entsprechende Links und Verweise.
Ich möchte (m)eine kurze Definition als Einstieg liefern und fasse Erkenntnisse aus verschiedenen Quellen zusammen,
ergänzt um meine persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen:
Definition Hochsensibilität:
Hochsensibilität (HS) bezeichnet im Wesentlichen eine höhere Reizoffenheit
und eine intuitivere Wahrnehmung innerer und äußerer Reize,
die mit einer gründlicheren Informationsverarbeitung und komplexeren Denkprozessen verbunden ist.
Bei der Aufnahme von Reizen wird zwischen äußeren und inneren Reizen unterschieden.
Damit ein Reiz wahrgenommen wird, muss eine gewisse Reizschwelle erreicht werden.
Man geht davon aus, dass das Filtersystem für aufgenommene Reize bei hochsensiblen Menschen (HSM) anders funktioniert, unbewusst mehr Reize aufgenommen werden
und die Reizschwelle niedriger ist, so dass mehr Reize über das Nervensystem das Gehirn ansprechen und verarbeitet werden müssen.
Es deutet eine Reihe von Belegen darauf hin, dass Hochsensibilität mit einer evolutionär bedingten Strategie in Zusammenhang steht,
die die Informationsverarbeitung vor das Handeln stellt. Das Verhaltenshemmsystem ist stärker ausgeprägt als das Verhaltensaktivierungssystem.
Aufgenommene Reize werden detaillierter analysiert und mögliche Konsequenzen des Handelns gründlicher bedacht.
Hochsensibilität
- ist gleichbedeutend mit Hochsensitivität
- wird als physiologisches Merkmal vererbt, die Ausprägungen sind aber vom Sozialisierungsprozess beeinflussbar
- bezeichnet keine Krankheit
- wird etwa 15-20% der Menschen zugeschrieben
- ist bimodal verteilt, d.h. man ist es oder man ist es nicht
Begrifflichkeiten
Im Deutschen findet man verschiedene Begriffe wie hochsensibel, hochsensitiv, hochempfindlich, hypersensibel oder hochreaktiv,
die häufig alle dasselbe Phänomen beschreiben.
Diese Uneinigkeit lässt sich auf die Tatsache zurückführen, dass die Thematik wissenschaftlich noch sehr jung ist und sich noch kein Begriff wirklich durchgesetzt hat.
Geprägt wurde der Begriff "Hochsensibilität" durch die US-amerikanische Psychologin Elaine N. Aron, die hochsensible Menschen als "HSP = highly sensitive person",
basierend auf dem Prozess der Sinnesverarbeitung - "SPS = sensory processing sensitivity" - bezeichnet und deren Werke als Grundstein in der HS-Forschung gelten.
Es gibt Ansätze, in denen die Begriffe 'Hochsensibilität' und 'Hochsensitivität' für unterschiedliche Teilbereiche verwendet werden.
Diese Unterscheidung geht aber weder mit Arons Definition konform noch wird sie durch Studien belegt.
Vergleichbar wäre eine Unterteilung von Autofahrern in Autofahrer und PKW-Fahrer.
Obwohl der Begriff 'Hochsensitivität' der wissenschaftlich korrektere Begriff ist, verwende ich den populäreren Begriff 'Hochsensibilität'
Nicht jeder sensible Mensch ist übrigens hochsensibel und nicht jeder Hochsensible ist sensibel.
Forschung
E. Aron veröffentlichte 1997 zusammen mit ihrem Mann Dr. Arthur Aron ihre grundlegende Arbeit zum Konstrukt der Hochsensibilität
in einer der angesehensten Fachzeitschriften der wissenschaftlichen Psychologie.
Die Wurzeln gehen allerdings viel weiter zurück.
E. Aron und andere verweisen z.B. auf Untersuchungen von Iwan Pawlow (1849-1936), C.G.Jung (1875-1969) oder J. Kagan (*1929).
Den "frühesten" Verweis auf Werke von Dr. Carl Ludwig Friedrich Freiherr von Reichenbach ("Der sensitive Mensch und sein Verhalten zum Ode", 1854)
findet man bei E. Reichardt.
Durch eine Vielzahl von Studien gilt es mittlerweile als gesichert, dass manche Menschen anders oder besonders stark auf Reize reagieren.
Im Juni 2014 wurde eine Studie, an der Aron und Aron beteiligt waren, veröffentlicht,
in der mittels der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) Unterschiede in der Reizverarbeitung eindeutig festgestellt wurden.
Was bedeutet das in der Praxis?
Reizoffenheit
Die Menge der Reize, die auf einen Menschen einströmen, ist für alle gleich.
Hochsensible Menschen können auch nicht besser sehen, hören, riechen, schmecken oder fühlen.
Der Unterschied besteht darin, dass Reize eher und intensiver ins Bewusstsein gelangen und beachtet werden wollen.
Es wird weniger als Spam aussortiert, auch Feinheiten werden zur Kenntnis genommen.
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Da kann das Pling des Smartphones meines Kollegen schon mal dreidimensional im Gehirn nachhallen,
ein unangenehmer Geruch den Magen zum Umdrehen bewegen (Kamille steht bei mir ganz hoch im Kurs),
Lichtstrahlen eines entgegenkommenden Autos wie ein Laser wirken, eine pfeifende Klimaanlage den letzten Nerv töten
oder ein schiefes Bild für Unbehagen sorgen. Und für die aufgezwungene Pudelmütze aus Wolle könnte ich noch heute meine Eltern wegen Folterei verklagen.
Gehen hochsensible Menschen auf eine Party (und das tun einige so wie ich durchaus gerne),
nehmen sie auch hier intensiver wahr – die Luft, die Stimmungen der anderen, die Musik (wenn sie schlecht ist, umso eher) –
einfach die gesamte Atmosphäre. Gespräche am anderen Ende werden nicht nur wahrgenommen, sondern müssen auch verfolgt und analysiert werden.
Ein Song mit dröhnenden Bässen, begleitet von Stroboskop und Nebelmaschine, kann toll sein – ich bezweifle aber,
dass hochsensible Menschen das als non plus ultra definieren würden.
Neben den sensorischen Reizen gibt es soziale Stimulationen wie Lob, Kritik, Beobachtung oder Druck,
auf die hochsensible Menschen stärker reagieren.
Lob und Kritik bringen mich z.B. in Verlegenheit und Abwehrhaltung,
wenn diese unerwartet oder unangemessen erfolgen. Beides muss für mich gerechtfertigt und verdient sein und will zunächst einmal in Ruhe überprüft werden.
Lob für Selbstverständlichkeiten ist mir unangenehm und standing ovations für eine geleistete Eventunterstützung
ließen mich vor Scham fast im Boden versinken – sitzendes Klatschen hätte ausgereicht. Und doch denke ich im Nachhinein gerne an diesen sehr emotionalen Moment zurück.
Stehe ich unter Beobachtung, werde ich nervös, weil man meine Fehler enttarnen könnte oder ich die Erwartungen wider besseren Wissens nicht erfülle
und Druck führt nicht selten zu unbefriedigenden Ergebnissen. Natürlich spielt dabei auch das eigene Selbstwertgefühl eine Rolle.
Auch innere Reize beeinflussen hochsensible Menschen in der Regel mehr als andere.
Hunger lässt mich zur Diva werden, Gedanken lassen meinen Blutdruck steigen, wenn man mir mal wieder unnötigerweise "meinen" Parkplatz geklaut hat
und Erinnerungen können tiefe Emotionen auslösen.
Es muss auch nicht immer eine zu hohe oder zu niedrige Intensität der Reize vorliegen, um zu einer Überstimulation zu führen.
Plötzlichkeit oder die Komplexität einer Situation können ebenfalls zu Überforderung führen.
Ich erinnere mich noch sehr gut an eine Autofahrt an einem frühen Spätsommerabend.
In Gedanken bin ich schon bei dem bevorstehenden Termin, sehe nebenbei jede Bewegung, die es irgendwie in mein Sichtfeld schafft -
Hasen, die in der Ferne um die Wette laufen, Jugendliche, die im Bushäuschen knutschen (da werden Erinnerungen wach),
eine achtlos weggeworfene Plastiktüte, die im Wind flattert.
Ich rieche das frisch gegüllte Feld, bewundere den Sonnenuntergang und höre leise Musik im Radio.
Dann spielt das Radio plötzlich zwei Lieder parallel und ich frage mich, was da wohl gerade schief läuft.
Das zweite Lied erinnert mich an den Klingelton meines Handys und es vergehen noch ein paar Sekunden bis mir endlich aufgeht: dein Handy klingelt.
Nun bricht Panik aus, weil keine Haltemöglichkeit in Sicht ist und die Freisprechanlage fehlt und man nicht während der Fahrt telefoniert und der Anruf ja wichtig sein könnte…
Reaktivität
Reize stimulieren das Nervensystem, das wiederum elektrische Signale aussendet.
Stimulation führt zur Erregung, Erregung zu Emotionen.
Werden mehr Reize aufgenommen, führt dieses zu stärkeren (positiven und negativen) Emotionen.
Hochsensibilität ist nicht gleichzusetzen mit emotionaler Empfindsamkeit.
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Jeder Mensch hat einen Wohlfühlkorridor, in dem er genau im richtigen Maß stimuliert ist.
Bei hochsensiblen Menschen ist dieser Korridor nur etwas schneller überbevölkert, was dann zur Übererregung führt.
Die Aufgabe jedes Einzelnen ist es, auf den eigenen Korridor zu achten und sich nicht auf der Hochsensibilität auszuruhen.
Man kann versuchen, störende Reize abzustellen oder ihnen soweit wie möglich aus dem Weg zu gehen,
andere erträgt man 'einfach' mit Akzeptanz und sorgt parallel dazu für ausgleichende Phasen.
Eine Zahnreinigung mit kaltem Wasser lässt mich z.B. regelmäßig fast vom Stuhl springen,
was auch meiner Zahnärztin nicht verborgen bleibt. Testweise habe ich einmal meine Hochsensibilität als Erklärung angeführt.
Nun, das hat zwar für mehr Verständnis, aber nicht für warmes Wasser gesorgt. Jetzt hält man mich nur für besonders tapfer – grmpf.
Da es aber für das kalte Wasser Gründe gibt und ich eine Zahnreinigung für sinnvoll halte, werde ich wohl weiter fast vom Stuhl rutschen und
die Termine wie gehabt in den Feierabend legen.
Weitere Merkmale
Aus der Definition für Hochsensibilität lassen sich weitere Persönlichkeitsmerkmale ableiten.
Die Merkmale finden sich bei allen Menschen und situationsbedingt kann sich jedes Merkmal bei jedem Menschen stärker zeigen.
Studien aber belegen, dass diese bei hochsensiblen Menschen in der Regel intensiver und situationsübergreifend auftreten
und folgende Bereiche (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) betreffen:
▶ Empathie
Sehr häufig gilt eine hohe Empathie als DAS Kriterium für Hochsensibilität. Laut E. Aron ist Hochsensibilität aber nicht mit Empathiefähigkeit gleichzusetzen.
Empathie bedeutet, sein Gegenüber in seiner Persönlichkeit und momentanen Verfassung wahrzunehmen und sich in ihn hineinzuversetzen.
Für mich besteht Empathie aus drei Faktoren:
- Fähigkeit
- Bereitschaft
- Interpretation
Jeder Mensch ist zu Empathie fähig, hochsensible Menschen aufgrund ihrer Reizoffenheit und ihrer feinen Wahrnehmung potentiell sicherlich eher.
Voraussetzung ist aber auch die (bewusste oder unbewusste) Bereitschaft, sich auf den anderen einzulassen.
Wenn ich an eine Party denke, dann bin ich am Anfang der Party vielleicht noch empfänglicher für die Stimmungen anderer,
am Ende der Party gibt es aber sicherlich viele andere, die empathischer sind als ich.
Hinzu kommt die eigene, immer subjektive Interpretation der eigenen Wahrnehmung, die nicht unbedingt mit den Gefühlen des Gegenübers übereinstimmen muss.
Mir ist noch kein Mensch begegnet, den ich als absolut oder durchgehend empathisch bezeichnen würde.
Und ich kann empathisch wie ein Fels sein. Aber bergen nicht auch die Felsen im magischen Steinkreis so manches Geheimnis?
Andererseits birgt eine hohe Empathiefähigkeit auch die Gefahr der Manipulation.
Sind die Ziele eines empathischen Menschen fehlgeleitet, ist er eher dazu in der Lage, andere zu manipulieren, um diese zu erreichen.
▶ Intuition
Unter Intuition, abgeleitet vom lateinischen intueri (anschauen, betrachten und erkennen) versteht man ein ganzheitliches Erkennen,
das aus dem Unterbewusstsein resultiert und rational nicht zu erklären ist.
Intuition kann als innerer Reiz verstanden werden, der auf Erfahrungswissen durch bewusste und unbewusste (intuitive) Wahrnehmungen und Vorstellungskraft beruht.
Er kann ausgelöst werden durch mentale oder emotionale Impulse (Geistesblitz, Bauchgefühl).
Jeder Mensch handelt intuitiv. Einfache Beispiele sind das Schalten im Auto oder das Verhalten in einer überfüllten Fußgängerzone.
Intuitiv weichen die meisten Menschen den anderen aus, so dass es nur selten zu Zusammenstößen kommt.
Intuition in Zusammenhang mit Hochsensibilität bezieht sich auf die intuitive Wahrnehmung,
eine ganzheitliche Erfassung einer Sache ohne Reflexion, d.h. ohne den Verstand zu gebrauchen.
Eine aktuelle Studie von B. Trappmann belegt, dass hochsensible Menschen eine hohe Intuition besitzen.
Elementar dabei ist, seine Intuition zu erkennen und ihr (ohne einen analytischen Beweis) zu vertrauen,
denn dann sind schnellere und bessere Entscheidungen möglich und nur dann entstehen kreative Ideen und neue Erfindungen.
Ich selbst tue mich allerdings (noch) schwer damit, einen Zugang zu meiner Intuition zu finden und diese über analytische Fakten zu stellen.
▶ Denkprozesse
Hochsensible Menschen bereiten intensiver vor und nach, Erlebnisse wollen verarbeitet, bevorstehende Ereignisse durchdacht werden.
Dabei sind es nicht nur die negativen oder noch nicht abgeschlossenen Ereignisse, die reflektiert werden müssen,
sondern das Gleiche gilt auch für neutrale oder positive Erlebnisse, die nochmal durchlebt werden, die noch lange nachhallen.
Es handelt sich auch keineswegs ausschließlich um Ereignisse, die einen persönlich betreffen.
Es können ganz allgemeine Aussagen, Entscheidungen oder Vorkommnisse sein, die zum Nachdenken anregen.
Zukünftige Ereignisse werden schon im Vorfeld möglichst gründlich vorbereitet,
alle denkbaren Szenarien theoretisch durchgespielt.
Handelt es sich dabei um etwas gänzlich Neues, sind die vorstellbaren Szenarien umso vielfältiger.
Damals, zu Beginn meiner Studienzeit wurde ich immer nervöser, je näher die erste Einführungsveranstaltung rückte.
Ich hatte keine Vorstellung davon, was mich erwartete. Ich kannte weder die Strecke, wusste nicht, wo ich parken konnte,
kannte das Gebäude nicht, konnte mir den Hörsaal nicht vorstellen - allein das Wort 'Hörsaal' löste unangenehme Erwartungen aus –
und erst recht hatte ich kein Gefühl dafür, auf welche Menschen ich treffen würde.
Also machte ich mich eine Woche vorher auf den Weg, um zumindest die äußeren Rahmenbedingungen
wie Strecke, Zeit, Parkplatz und Gebäude zu erkunden – es hat geholfen.
Der Kopf gleicht häufig einem Haus voller Gedanken mit offenen Türen, in dem permanent mindestens einer auf den Flur des Bewusstseins rennt und nach Aufmerksamkeit schreit.
Viele verlassen das Haus bald wieder, andere bleiben länger oder für immer und ziehen in die Etage der Erinnerungen ein, aber jeder Gedanke will zu Ende gedacht werden.
Absolute Ruhezeiten gibt es nicht und selbst das berühmte 'Schäfchen zählen' wird zum Abenteuer.
Schafe springen über ein Hindernis, manche sind faul und laufen daran vorbei, das Schwarze geht
in der Ferne eigene Wege und das nächste läuft rückwärts, um sich mit dem nachfolgenden Schaf zu unterhalten.
Das Denken abstellen geht nicht, aber man kann lernen, für den Moment unlösbare Problemgedanken in eine Pause zu schicken
und die Tür zu schließen, bis sich neue Aspekte ergeben.
▶ Intelligenz
Es gibt keine einheitliche Definition des Begriffs "Intelligenz".
In der modernen Forschung wird der Fokus auf den Prozess der Informationsverarbeitung
und die Effizienz des Arbeitsgedächtnisses als Grundlage aller Denk- und Handlungsprozesse gelegt.
Dabei spielen die Schnelligkeit, Gründlichkeit, Abrufbarkeit und Verwertung bzw. Umgestaltung aufgenommener Informationen zentrale Rollen.
Ausgehend von diesem Ansatz ist es nachvollziehbar, dass hochsensible Menschen häufig als überdurchschnittlich intelligent gelten.
Allerdings ist Hochsensibilität nicht gleichzusetzen mit ▶ Hochbegabung,
worauf ich auf einer separaten Seite detaillierter eingehe.
▶ Naturverbundenheit
Hochsensible Menschen gelten als besonders naturverbunden, brauchen die erholsame Stille der Natur als Auszeit
und haben häufig einen besonderen Bezug zu Tieren, nicht nur zu den eigenen Haustieren.
Sanft fallende, schwebende Hagelkörner vor strahlend blauem Himmel über einer grünen Kiefernkrone können mich in die Nähe
eines Taschentuchalarms führen (na ja, fast) und mein Lieblingsplatz ist eine versteckte Bank unter Bäumen an meinem "Grübelsee".
Ich liebe, allein schon bedingt durch meinen Hund, Spaziergänge in der Natur und mir ist es immer wieder ein Rätsel,
wenn andere es bevorzugen, dabei zu telefonieren oder die Ohren mit Musik zu beschallen (oder beides gleichzeitig).
Ein klopfender Specht, quakende Enten oder ein Handyton-imitierender Eichelhäher sind mir deutlich lieber.
Ich erinnere mich gerne an 'Begegnungen' der tierischen Art – ein Maulwurf, der blind versucht, den Regenwurm vor seiner Nase zu finden,
eine Wildschweinrotte, die in sicherer Entfernung aus dem Wald hervorbricht oder der Hirsch, der plötzlich vor uns auftaucht
und alle drei für eine gefühlte Ewigkeit in Schockstarre verfallen lässt.
Als Kind habe ich nie Fliegen Flügel ausgerissen oder ähnliche der kindlichen Neugier geschuldeten Dinge getan.
Allerdings kann ich mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich damals Mäusebabys von einem Feld 'rettete',
sie in einen Bollerwagen packte und darin zum Schutz eine Mauer aus Ziegelsteinen errichtete. Dann kippte ein Ziegelstein um. Bis heute hängt mir dieser 'Mord' noch nach.
▶ Wertesystem
Werte bzw. Wertvorstellungen sind Eigenschaften oder Qualitäten,
die subjektiv als erstrebenswert empfunden werden.
Bei hochsensiblen Menschen werden häufig immer wieder dieselben Werte erwähnt.
Hochsensible Menschen sind in der Regel pflichtbewusst, gewissenhaft, loyal und gerechtigkeitsliebend und erwarten dieses häufig auch von ihren Mitmenschen.
Sie fühlen sich anderen Menschen enger verbunden, erkennen eher die Auswirkungen von (eigenen und fremden) Verhaltensweisen.
Hohe Loyalität und enge Verbundenheit können allerdings auch dazu führen, dass zu lange an einer Beziehung,
welcher Art auch immer, festgehalten und darin noch Potenzial gesehen wird, das nicht mehr vorhanden ist.
Für mich gehören Gerechtigkeit und Fairness zur Basis jeglichen Umgangs miteinander,
Lügen oder Unwahrheiten zum eigenen Vorteil haben selten eine Chance.
Das heißt nicht, dass ich mich immer und überall wahrheitsgemäß äußere (was ist schon Wahrheit),
aber ich kann gar nicht unbemerkt lügen, da ich dann aus Verlegenheit eher einer Tomate ähnele.
Werte wie Ehrlichkeit und Pünktlichkeit sind für mich ein Ausdruck des gegenseitigen Respekts und der Wertschätzung.
Auch Perfektionismus hat für mich eher etwas Positives und geht Hand in Hand mit Gewissenhaftigkeit.
Viele hochsensible Menschen sind perfektionistisch und wollen jede Aufgabe beim ersten Mal vollständig und richtig erledigen.
Nachbessern ist keine beliebte Option und gilt nur als Notlösung.
Ich habe einen hohen Qualitätsanspruch - an andere und noch mehr an mich selbst - und eine geringe Fehlertoleranz.
Fehler sind zum Ärgern und Vermeiden da – dann erfüllen sie auch ihren eigentlichen Zweck der Wissenssteigerung und Verbesserung.
Für mich ist es nicht nachvollziehbar, eine Aufgabe anzugehen ohne den Willen, diese - unter Berücksichtigung aller Eventualitäten -
vollständig und zufriedenstellend zu erledigen. Ob mir das gelingt, steht auf einem anderen Blatt und für andere kann das sehr anstrengend sein.
Die Gefahr besteht darin, sich in Details zu verstricken und somit das Gesamtziel aus den Augen zu verlieren.
Hilfreich ist dabei, einen gewissen Druck durch die Definition eines Fertigstellungszeitpunkts aufzubauen,
sobald die Aufgabe abschätzbar ist. Wird dieser Druck aber von außen ausgeübt, solange Aufwand und Dauer nicht überschaubar sind,
entsteht eher Panik statt effektiver Produktivität.
Werte, die mir wichtig sind, erwarte ich (leider) auch von anderen.
Was für eine Überraschung, wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden und Enttäuschungen vorprogrammiert sind.
▶ Introversion
Hochsensible Menschen wirken häufig schüchtern, zurückhaltend, in sich gekehrt - gelten als introvertiert.
Tatsächlich wird der Anteil der Introvertierten auf 70% innerhalb der Gruppe der Hochsensiblen geschätzt.
Introversion ist nicht gleichzusetzen mit Hochsensibilität.
Intro- und Extraversion sind angeborene Eigenschaften, die sich um Lauf der Zeit nicht grundlegend ändern
und gehören zu den Big Five, zu den fünf Hauptdimensionen zur Beschreibung der menschlichen Persönlichkeit.
Wie sehr diese Eigenschaft allerdings ausgeprägt ist, hängt vom Individuum und der jeweiligen Situation ab.
Der wesentliche Unterschied zwischen Intro- und Extravertierten ist die Quelle, aus der sie Energie tanken.
Introvertierte schöpfen Kraft aus dem Alleinsein, Extravertierte eher aus der Interaktion mit anderen.
Introvertierte können mit Small Talk wenig anfangen, bevorzugen tiefergehende, bilaterale Gespräche,
haben oft wenige, enge Freundschaften, wobei sie den Begriff "Freundschaft" sehr eng definieren.
Sie lernen eher durch Beobachtung als durch Handeln und brauchen Zeit für Entscheidungen.
Reizoffenheit ist kein Kriterium für Introversion.
Ich halte mich eher für introvertiert. Darf ich aber den DJ auf einer Party spielen, bin ich von Introversion weit entfernt.
Krank oder nicht krank?
"Na, was gibt's Neues?"
"Ich bin hochsensibel!"
"Oh, das tut mir leid.
Kann man das behandeln?"
"Hä???
Und bei dir?
Warst du schon beim Arzt
wegen deiner Linkshändigkeit?"
Es gilt:
- Hochsensibilität ist keine Krankheit
- Hochsensible Menschen sind nicht anfälliger für psychische Erkrankungen
Leider gibt es andere vorherrschende Meinungen.
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Wesentliche Gründe sind in der Natur des Menschen und in unserem Gesundheitssystem zu finden.
Der Mensch als soziales Wesen hat, evolutionär bedingt, einen ausgeprägten Drang nach Gemeinschaft, nach Gruppenzugehörigkeit.
Abweichendes Verhalten wird nicht verstanden, Eindringlinge als Bedrohung empfunden, Neues erst einmal bekämpft.
Es liegt in der Natur des Menschen, alles, was nicht der kulturell bedingten Norm entspricht, einzupassen oder abzuwerten.
Doch was ist eigentlich normal?
- Ein Dortmunder im Schalke-Fanclub?
- Eine Frau in der Bundeswehr?
- Ein Homosexueller?
- Ein Syrer in Deutschland?
- Ein Hochsensibler?
Anpassung in gewissem Rahmen ist sicher sinnvoll und notwendig, genauso aber Akzeptanz und Toleranz.
Die Norm über alles zu stellen, ist weder für den Einzelnen noch für die Gemeinschaft gewinnbringend oder zielführend.
Logischerweise steht auch in unserem Gesundheitssystem der normierte Mensch im Vordergrund.
Noch wichtiger ist allerdings die Tatsache, dass es sich bei diesem System um einen Wirtschaftszweig handelt. Nur Krankheiten bringen Geld.
Wussten Sie übrigens, das man zuerst das synthetische Vitamin C erfunden und danach den Vitamin C-Mangel als neue Massenkrankheit definiert hat?
Mich wundert es nicht, dass man z.B. Reizoffenheit als erlernte Strategie (nach erlebten Traumata) zur Vermeidung
drohenden Unheils und Übererregung als Überempfindlichkeit definiert.
Allerdings lässt man dabei außer Acht, dass
- die Reizoffenheit situations- und bereichsübergreifend auftritt
- die Reizoffenheit vererbt wird
- ein Zusammenhang zwischen ▸ Hochsensibilität und erlebten Traumata nicht nachweisbar ist
- der Anteil der Hochsensiblen von ca. 15% stabil bleibt
- Übererregung bei jedem Menschen auftritt, der zu viele Reize aufgenommen hat
Ich z.B. habe keine Angst davor, dass mich die pfeifende Klimaanlage fressen wird.
Warum gibt es aber immer mehr Fachtherapeuten und Coachs, die sich auf die Beratung von hochsensiblen Menschen spezialisiert haben?
Wenn Hochsensibilität bekannt und als normal akzeptiert wäre, bräuchte es diese nicht.
Insbesondere gilt dieses für die Hochsensiblen selbst. Weiter Ausführungen zum Thema finden Sie unter ▸ 'HS und Coaching'
Relevanz
Ist das Thema 'Hochsensibilität' für die breite Öffentlichkeit relevant?
Ich meine, nein, weil das Thema einfach nicht massentauglich ist, aber
- jeder Hochsensible sollte es (verstehen und) leben
- jeder (psychologische) Lehrer sollte es kennen
Insbesondere für alle, die Menschen in irgendeiner Form bewerten, psychologisch beraten oder einstufen, sollte das Thema zum Ausbildungsprogramm gehören.
Warum sollte sich aber die Mehrheit für das Thema an sich interessieren?
Für hochsensible Menschen selbst kann die Kenntnis hilfreich, muss aber nicht notwendig sein.
Aus persönlicher Sicht kommt man nicht daran vorbei, über seine eigene Hochsensibilität im engsten Umfeld zu sprechen,
da es sich um ein elementares Persönlichkeitsmerkmal handelt. Im weiteren Kreis halte ich es nicht für zielführend.
Als ich über meine vermutetete Hochsensibilität gesprochen habe, waren die unterschiedlichsten Reaktionen die Folge.
Verständnis war (zunächst) nicht dabei – woher auch? Die grundsätzliche Bedeutung wirklich nachempfinden und verstehen können nur hochsensible Menschen.
Müssen andere auch gar nicht – Toleranz und Akzeptanz auf beiden Seiten reichen durchaus aus.
Wie stellt man Hochsensibilität fest?
Laut Aron gibt es vier Indikatoren, die sie unter dem Akronym "DOES" zusammenfasst und die auf das Vorliegen einer Hochsensibilität hindeuten.
- D - Depth of processing
- O - Easily overstimulated
- E - Emotional reactivity and high empathy
- S - Sensitivity to subtile stimuli
Zitat E. Aron:
"Wenn man Hochsensibilität feststellen will, hält man Ausschau nach vier Kategorien:
Gründliche Informationsverarbeitung, Übererregbarkeit, emotionale Intensität und sensorische Empfindlichkeit."
(aus "Hochsensible Menschen in der Psychotherapie")
Basierend auf ihren Forschungsergebnissen hat Aron eine HSP-Skala als Selbsttest mit einem Set von 27 Fragen aufgestellt.
Einen modifizierten Test finden Sie ▶ hier.
Fazit
Hochsensible Menschen nehmen mehr Reize auf, denken, fühlen und agieren aufgrund ihrer angeborenen Disposition anders –
mal im positiven, mal im negativen Sinn, mal offensichtlich, mal unbemerkt – einfach nur anders.
Will man Hochsensibilität mit einem Wort beschreiben, dann trifft es Komplexität wohl am besten - komplexer in der Wahrnehmung, im Fühlen und Denken und in den Reaktionen.
Hochsensibilität ist kein Ruhekissen und keine Entschuldigung, sondern sie ist.
Die Erkenntnis darüber kann dabei helfen, Vergangenes ins rechte Licht zu rücken und Verhaltensunterschiede, sich selbst und andere besser zu verstehen.
Für mich ist das Verständnis einer Sache elementare Voraussetzung für die Akzeptanz und den Umgang mit diesem Sachverhalt.
Haben hochsensible Menschen nun eine Sonderbehandlung oder gar Mitleid verdient?
Nein, warum auch?
Es gilt das, was für alle Menschen gilt:
Wenn Selbsterkenntnis auf ein offenes Ohr trifft, Authentizität gespiegelt wird,
wenn sich gegenseitiger Respekt mit Wertschätzung paart, dann klappt’s auch mit dem Nachbarn.
Ich selbst erfülle einige HS-Kriterien, andere aber auch nicht. Ob ich damit hochsensibel bin, weiß ich nicht.
Für mich spielt es aber auch inzwischen keine Rolle mehr, weil ich viel über mich und über mögliche Unterschiede und Ursachen gelernt habe.
Ich möchte nichts missen, was zum Kern meines Wesens gehört und das ist es, was zählt.
Hochsensibilität – weder Gabe noch Fluch, sondern Teil der normalen Realität.
Zum Abschluss ein paar augenzwinkernde Wortkreationen, in denen sich der ein oder andere Hochsensible wiederfindet:
Falls Sie das Thema 'Hochsensibilität' vertiefen möchten, finden Sie im Folgenden eine Auswahl mit Quellen, Links und Literatur.
Links
Literatur
- E. Aron: Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen (ISBN 978-3636062468)
- E. Aron: Hochsensible Menschen in der Psychotherapie (ISBN 978-3955710224)
- U. Hensel: Mit viel Feingefühl: Hochsensibilität verstehen und wertschätzen (ISBN 978-3873878952)
- E. Reichardt: Hochsensibel - Wie Sie Ihre Stärken erkennen und Ihr wirkliches Potenzial entfalten: Mit umfangreichem Selbsttest (ISBN: 978-3424152937)