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Hochsensibilität und Trauma

Kann Hochsensibilität durch ein Trauma erworben werden?

Diese Frage ist eine der am meisten diskutierten Fragen rund um das Thema Hochsensibilität (HS).
Folgt man der einschlägigen Literatur, ist die Antwort ganz klar: nein.
An dieser Stelle könnten die Ausführungen auch schon enden, aber das wäre wohl etwas kurz und unbefriedigend.

Im Internet stößt man immer wieder auf Webseiten, die postulieren, dass Hochsensibilität auch durch ein Trauma erworben werden kann. Bei genauerem Hinsehen erkennt man aber, dass meistens von Überschneidungen in der Symptomatik die Rede ist. Es gilt inzwischen als gesichert, dass Hochsensibilität angeboren ist und vererbt wird, also nicht erworben werden kann.
Insbesondere ist HS im Gegensatz zum Trauma bzw. der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) keine Krankheit, die in irgendeiner Form diagnostiziert oder behandelt wird.
Wäre Hochsensibilität auch eine Folge eines Traumas, liegt die Frage nahe, was mit der Hochsensibilität passiert, wenn die PTBS erfolgreich therapiert wird. Ist dann die Hochsensibilität an sich behandelbar und ist sie dann nicht auch als Krankheit zu definieren? Würde es sich dann nicht um ein Paradoxon handeln?


Was ist ein Trauma?

Ein Trauma ist eine seelische / emotionale Verletzung, die durch ein belastendes Ereignis oder eine Situation ausgelöst wird.
Häufig handelt es sich dabei um Formen physischer oder psychischer Gewalt, um schwere Unfälle, Krankheiten oder auch Verlusterfahrungen.

Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine psychische Erkrankung, die durch ein oder mehrere außergewöhnlich schwere(s) Trauma(ta) ausgelöst wird und in der Regel innerhalb des ersten halben Jahres nach dem oder der Erlebnis(se) auftritt.

Kleinere "Traumata" hat fast jeder schon erlebt und diese führen selten zu einer psychischen Störung. Jeder erinnert sich an viele kleinere Verletzungen seelischer Natur oder auch z.B. an den Schreck beim ersten Sturz mit dem Fahrrad oder an den Griff auf eine heiße Herdplatte.
Diese werden in Bruchteilen einer Sekunde vom limbischen System mit allen beteiligten Reizen aufgenommen. Die Verarbeitung erfolgt dann mit Hilfe einer Bewertung durch den kognitiven Teil des Gehirns auf Basis des aktuellen Wissensstandes.

Hier liegt insbesondere auch eine Chance für alle Hochsensiblen, erlebte Situationen und eingefahrene Denkmuster, die gerade auch aus der Kindheit resultieren, unter dem Blickwinkel der HS neu zu bewerten und damit aufzulösen.


Ob sich aus dem Trauma eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, hängt vom empfundenen Leid des Individuums ab. Ein sensibles limbisches System kann die Verletzlichkeit noch erhöhen, woraus allerdings nicht folgt, dass Hochsensible grundsätzlich anfälliger für Traumata sind.

Um ein schweres Trauma zu verarbeiten, benötigt es Zeit, die Selbstheilungskräfte des Gehirns zu aktivieren. Verarbeiten ist hier nicht im Sinne des Vergessens gemeint, denn es ist durchaus sinnvoll, sich an die Erfahrungen zu erinnern, um sich in Zukunft zu schützen. Verarbeitung bedeutet, nützliche (die "Lektion") von unnützen Informationen wie Gefühlen und Gedanken inkl. der physiologischen Aktivierung zu trennen und nur erstere abzuspeichern.

In diesem Zusammenhang fallen oft die Begriffe des posttraumatischen Wachstums oder der Resilienz. Von einer PTBS spricht man erst, wenn die Belastung längere Zeit (mehr als 4 Wochen) anhält.


Wenn das Erlebnis stark belastend ist, einen überfallartig trifft und überschwemmt und die kognitive Verarbeitung nicht mehr funktioniert, entsteht eine Unordnung im Nervensystem und die traumatische Erinnerung wird nahezu unverändert quasi als ein separates, dysfunktionales Netzwerk inklusive aller Bilder, Geräusche, Gerüche, Emotionen, physischen Empfindungen und eigenen Überzeugungen im emotionalen Teil des Gehirns abgelegt. Die Verbindung zum rationalen, kognitiven Teil des Gehirns wird gekappt. Jeder kleinste Teilaspekt dieser Erinnerung kann die komplette Erinnerung wieder wachrufen. Häufig ist die Rede von Erinnerungen, die sich in das Gehirn eingebrannt und Narben auf der Seele hinterlassen haben, für die man keine Worte findet.

Es wird deutlich, dass die erhöhte Wahrnehmung und Komplexität aufgrund einer Hochsensibilität die Intensität eines erlebten Traumas und die mögliche Reaktivierung noch erhöhen können.


Warum wird ein Trauma häufig als Ursache für eine HS gesehen?

Mit einer PTBS geht nicht selten eine Hab-Acht-Haltung in Form erhöhter Wachsamkeit und resultierender Übererregbarkeit einher, um möglichst allen Faktoren, die die Erinnerung an das Trauma wieder auslösen können, aus dem Weg zu gehen.

Kriterien für eine PTBS sind lt. E. Aron:

  • Traumabezogene Albträume oder auch Flashbacks
  • Quälende Erinnerungen
  • Ausgeprägte Stressreaktionen
  • Rückzug von anderen
  • Reduzierte Fähigkeit, Gefühle zu empfinden
  • Psychische Abgestumpftheit
  • Schlaflosigkeit
  • Hypervigilanz, also erhöhte Wachsamkeit
  • Übertriebene Schreckreaktionen

Hochsensiblen schreibt man u.a. folgendes zu:

  • Intensive, z.T. wirre Träume
  • Leichte Übererregbarkeit und damit erhöhte Stressreaktionen
  • Erhöhtes Ruhebedürfnis, das mit Abgrenzung und Rückzug von anderen einhergeht
  • Schreckhaftigkeit

An dieser – nicht vollständigen – Aufzählung wird deutlich, wo die Schwierigkeit liegt, PTBS von HS zu unterscheiden. Wesentlich ist aber für eine PTBS, dass überhaupt ein Trauma vorliegen muss.


Was unterscheidet HS von PTBS?

Die wesentliche Unterscheidung zwischen den Symptomen einer PTBS und den Merkmalen einer Hochsensibilität ist, dass die Symptome sich bei einer PTBS auf das Ereignis selbst beziehen, während die Merkmale einer HS situationsübergreifend auftreten und einen anderen Fokus besitzen.

Hochsensibilität beruht auf einem differenzierteren, intensiveren Reizverarbeitungsprozess, der genetisch bedingt ist. Man geht davon aus, dass mehr Reize über den Thalamus ins Bewusstsein gelangen und dort verarbeitet werden müssen. Dieses gilt für alle Reize.


Das Vorliegen einer Hochsensibilität zeigt sich in den vier gemeinsam auftretenden Kategorien:

  • Gründliche Informationsverarbeitung
  • Übererregbarkeit
  • Emotionale Intensität
  • Sensorische Empfindlichkeit

Dieses betrifft und durchzieht alle Lebensbereiche und alle (positiven wie negativen) Erlebnisse.


Warum ist eine Unterscheidung wichtig?

Die Antwort "weil man trennen sollte, was nicht zusammengehört" ist zwar korrekt, aber wohl wenig gehaltvoll und zielführend.

In der Regel beschäftigt das Thema "HS durch Trauma" traumatisierte Menschen, die ein Problem in Form einer PTBS entwickelt haben.
Um eine adäquate Lösung für ein Problem zu finden, ist es immer sinnvoll, die Ursachen zu kennen, weil damit eine andere Vorgehensweise verbunden ist.

Es ist nicht Ziel, traumatisierten Menschen die Hochsensibilität abzusprechen. Wer sich in dem Konstrukt der differenzierteren Reizverarbeitung wiederfindet und daraus seinen Nutzen ziehen kann, sollte sich nicht verunsichern lassen. Ganz im Gegenteil können PTBS und HS gemeinsam auftreten und sich gegenseitig noch verstärken.

Traumatisierte Nicht-Hochsensible fahren aber langfristig besser damit, das Trauma aufzuarbeiten und damit die Symptome wie permanente Übererregbarkeit oder übertriebene Wachsamkeit, die damit einhergehen, abzulegen.

Hochsensible dagegen müssen lernen, ihre HS zu akzeptieren und dabei hilft enorm, dass die Hochsensibilität nicht nur von negativen, sondern auch von positiven Aspekten begleitet wird.
Bei traumatisierten Nicht-Hochsensiblen wird man diese positiven Aspekte in der intensiven Form nicht finden.
Bei traumatisierten Hochsensiblen, die sich in eine Therapie begeben, ist die Kenntnis über das Vorliegen einer Hochsensibilität von elementarer Bedeutung.


Welche Behandlungsansätze gibt es?

Die Behandlung von Traumata, die nicht verarbeitet wurden und damit zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führen, gehört in professionelle Hände. Professionelle Hilfe bedeutet in der Regel, dass ein Psychologe oder Psychiater aufgesucht wird.
Ich möchte hier trotzdem einige Punkte aufgreifen.


Gesprächstherapien

Reine Gesprächstherapien scheinen nicht zielführend zu sein, da es nicht ausreichend ist, einfach 'nur' zu reden, um eine Verbindung zwischen alten Emotionen und aktuellen kognitiven Sichtweisen herzustellen. Manche Psychologen gehen sogar davon aus, dass eine PTBS zu schnell diagnostiziert wird und Gespräche die Erinnerungen wieder aufleben und dadurch erst pathologisch werden lassen.
Eine Gesprächstherapie kann daher nur unterstützend sein und hier ist es wesentlich, dass der Therapeut Kenntnisse über das Vorliegen und das Wesen einer Hochsensibilität besitzt.


Medikamente

Medikamente wie Psychopharmaka können helfen, zunächst einmal eine Basis zu schaffen, um dann in die Ursachenforschung eintreten zu können.
Medikamente behandeln aber immer nur die Symptome und genauso wie eine Kopfschmerztablette nicht weiß, wo der Kopf ist, wissen Psychopharmaka auch nicht, welche Reaktionen der PTBS zuzuschreiben sind.
Schmerzmittel schalten einzig und allein alle Schmerzrezeptoren aus, Psychopharmaka nehmen Einfluss auf die Ausschüttung der Botenstoffe, die zu 'unerwünschten' Verhalten führen, das heißt, sie dämpfen alle emotionalen Reaktionen.
Bei der Einnahme von Medikamenten jeglicher Art sollte berücksichtigt werden, dass Hochsensible in der Regel stärker auf Medikamente reagieren.


EMDR

Eine mögliche Alternative bietet EMDR (eye movement desensitization and reprocessing), eine Behandlungsmethode der kalifornischen Psychologin F. Shapiro, die auf die Aktivierung der Selbstheilungskräfte durch Augenbewegungen abzielt.

Die Selbstheilungskräfte werden hier als "adaptives System der Informationsverarbeitung" bezeichnet und aktiviert, indem rhythmische, schnelle Augenbewegungen angeregt werden, wie sie während des REM-Schlafs im Traum auftreten.
Dass EMDR bei der Behandlung von PTBS funktioniert, haben Studien eindrucksvoll bewiesen, aber warum es funktioniert, ist noch nicht bekannt, so dass die Methode nicht unumstritten ist.


Fazit

Hochsensibilität kann nicht durch ein Trauma erworben werden. Sehr wohl können sich aber Hochsensibilität und Traumata gegenseitig verstärken, so dass das Vorliegen einer HS bei traumatisierten Menschen in jedem Therapieansatz berücksichtigt werden sollte.


Quellen

  • E. Aron: Hochsensible Menschen in der Psychotherapie (ISBN 978-3955710224)
  • D. Servan-Schreiber: Die Neue Medizin der Emotionen (ISBN 978-3442153534)
  • D. G. Myers: Psychologie (ISBN 978-3642407819)